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Über den Mangel an Kultur und den Mangel an Menschlichkeit

Ich möchte den Mitgliedern der Jury des Heinrich-Heine-Preises danken, dass sie mir die Ehre dieses Preises zuteil werden lassen; ...
A.L. Kennedy

Ich möchte den Mitgliedern der Jury des Heinrich-Heine-Preises danken, dass sie mir die Ehre dieses Preises zuteil werden lassen; wenn mich Menschen von intellektueller Strenge und gutem Urteilsvermögen für eine gute Autorin halten, kommt das in gewisser Weise immer überraschend. Und wenn man eines Preises für würdig befunden wird, der dazu auch noch das Versprechen der Menschheit und die Rolle des Schreibens im fortdauernden Projekt menschlicher Zivilisation feiern will, so ist das sehr bewegend. Mit dem Geist in Verbindung gebracht zu werden, der in Heines Schreiben steckt, mit seinem Mitgefühl, seiner Vorstellungskraft, seinem Wagemut, seiner Trauer und seiner Empörung – das ist mehr, als ich mir je für mich selbst oder meine Arbeit erhofft hätte.

Darum vielen Dank an Sie alle. Aber wie Sie wissen, kann es bei Kunst und Kultur heute nicht mehr bloß darum gehen, ein paar fröhliche Presseerklärungen herauszugeben und sich bei einer angenehmen Veranstaltung unter Gleichgesinnten gegenseitig zu gratulieren, dass wir alle um die wichtigen Werte wissen. Uns allen ist bewusst, dass die Werte, die uns schützen, uns die bestmöglichen Chancen versprechen, unser menschliches Potenzial zu erfüllen und das Menschliche in anderen zu sehen und wertzuschätzen – dass diese Werte derzeit vergessen, verlacht oder still und leise verscharrt werden.

Während Deutschland sich noch an die Lektionen klammert, die es vor langer Zeit über kulturelle Vergiftung gelernt hat, spreche ich zu Ihnen als Bürgerin Großbritanniens, eines Landes, wo Bücher gar nicht verbrannt werden müssen – epidemische Bibliotheksschließungen und eine massiv eingedampfte literarische Kultur verhindern ohne viel Aufhebens, dass Bücher gelesen werden oder überhaupt entstehen. Mein Land würde traumatisierte und schutzlose Kinder lieber im Schlamm von Calais oder wer weiß wo liegen lassen, als sie so willkommen zu heißen, wie wir vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg die Kindertransporte und Hunderttausende Flüchtlinge willkommen geheißen haben. In diesem Land ist die öffentliche Verfügbarkeit von Kunst und Kultur in den letzten Jahrzehnten schockierend zurückgegangen, und besonders bedroht sind sozial engagierte Projekte. In diesem Land – einem reichen Land – sind ungefähr 130 000 Kinder obdachlos. Dieses Land foltert in Geheimgefängnissen anderswo und in Polizeiwachen daheim, es sperrt seine Bürger ohne Prozess ein. Dieses Land verfügt über ein in Scherben liegendes Bildungssystem für die Masse, das auf Monetarisierung und Auslese durch Tests gründet, sowie ein emotional traumatisierendes und Vorrechte zementierendes Bildungssystem für die Elite. In diesem Land gibt es in den Massenmedien immer weniger Berichterstattung über Kunst und Kultur. In diesem Land ist der öffentliche Diskurs ein höllisches Gebräu aus Klatsch, böswilliger Erfindung, Rassismus, Aufhetzung zum Hass und Obszönität. In diesem Land verzweifeln die Beamten, gründen Politiker ihre Entscheidungen auf Glauben und Gefühl, wozu allerdings weder Glauben an die Menschheit noch Gemeinschaftsgefühl zählen, in diesem Land wird jeder Versuch, sich über das Niveau der Gosse zu erheben, als Besserwisserei oder weltfremder Wahnsinn gebrandmarkt. In diesem Land verletzt – wie die Vereinten Nationen jüngst erklärten – die Behandlung von Behinderten durch die Regierung deren Menschenrechte, und ein Äquivalent zur Aktion T4 zur systematischen Ermordung von Menschen mit Behinderungen ist gar nicht nötig: Wir haben ihnen schlicht jegliche Unterstützung entzogen, sie von offizieller Seite schikaniert, in den Massenmedien dämonisiert und dann darauf gewartet, dass sie zu Zehntausenden sterben – an Stress oder Unterernährung, oder durch Schmerz und Verzweiflung in den Selbstmord getrieben. Geben Sie sich keinen Illusionen hin: wir sind und waren als Land schon lange verloren – lange bevor der Brexit das der ganzen Welt kundgetan hat. Es dämmertt kein Morgen, an dem ich nicht aufwachen und wie Max Liebermann – der übrigens eine schöne Ausgabe des »Rabbi von Bacherach« illustriert hat – sagen möchte: »Ich kann gar nicht so viel fressen, wie ich kotzen möchte.« 

Denn zwischen dem Mangel an Kultur und dem Mangel an Menschlichkeit besteht eine Verbindung. Sie wissen es, ich weiß es, wir haben es immer schon gewusst, aber wir haben dem vorherrschenden Diskurs gestattet, es zu vergessen. Doch wie hat Franklin D. Roosevelt gesagt: »Demokratie kann nur gelingen, wenn diejenigen, die ihren Willen ausdrücken, in der Lage sind, klug zu wählen. Der wahre Schutzwall für die Demokratie ist daher Bildung.« Die Ausübung der Künste und der Kontakt mit ihnen ist unser lebenslanges Bildungsprogramm – hier und jetzt: das bereitet uns darauf vor, klug zu wählen. Sie trainiert und stärkt unsere Fantasie, die Kraft, die uns befähigt, uns jede Form von Veränderung und die Konsequenzen unseres Handelns vorzustellen, mit anderen zu fühlen. Ohne die Fantasie ist Hoffnung eine Form des Wahns. Kunst ist das Herz der Demokratie. Wenn wir an uns selbst zweifeln, wenn wir das Gefühl haben, dass wir uns mit unserer Kunst und als Künstler nur wichtig machen, dann können wir uns Rat suchend an die Wissenschaft wenden, können über das Phänomen »Situationsdruck« und seinen massiven Einfluss lesen – was ist Kunst, was ist Kultur anderes als Situationsdruck? Wir können über Mitmenschlichkeit und Mitgefühl lesen – wie man sie vermindert, wie man sie vergrößert – indem man das tut, was die Kunst tut. Wir können die Geschichte studieren, wir können immer wieder die wunderbare und schreckliche Wahrheit in Heines Versen aus der Tragödie Almansor lernen: »Das war ein Vorspiel nur, dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen.« Wir können auf die Arbeit Raphael Lemkins schauen, des Mannes, der den Begriff Genozid oder Völkermord prägte, als dieses Verbrechen noch keinen Namen hatte, und der den Weg vieler Kulturen in den Völkermord studiert hat – und dabei erkennen, dass das Vorspiel in der Tat immer das gleiche ist – zuerst wird die Kunst ermordet, dann die Menschen. Immer. Immer.

Und nun spreche ich für mich selbst – ich bin 51 Jahre alt und habe als Schriftstellerin versagt. Seit ungefähr 35 Jahren habe ich geschrieben, und ich habe die Arbeit, den Prozess geliebt, und ich habe meinen Lebensunterhalt damit verdient – ich bin dafür bezahlt worden, laut zu träumen, ich hätte mir kein besseres Leben vorstellen können – ich habe ein schönes Zuhause, ich habe ein paar Preise gewonnen, und ich habe von Zeit zu Zeit mit Autorinnen und Autoren im Gefängnis gearbeitet, oder in Stadtteilzentren, oder in Krankenhäusern, ich habe mit jungen Autorinnen und Autoren gearbeitet, mit Kindern, ich habe in den Medien geschrieben – und ich habe daraus gelernt, aber ich habe nicht genug darüber gesprochen, was ich gelernt habe. Ich habe gesehen, wie Kunst Leben erhellen kann, denn dazu ist sie in der Lage. Aber ich habe nicht genug getan. Ich habe nicht genug Menschen erzählt, wie wertvoll das ist, ich habe nicht genug um den Raum gekämpft, in dem das möglich ist. Wie vielleicht sehr viele von uns in komfortablen, stabilen Demokratien habe ich vergessen, dass der Preis der Freiheit ständige Wachsamkeit ist, und ich habe träges Schweigen und Feigheit für wahrhaft liebevolle Toleranz gehalten. Liebe sagt die ganze Wahrheit – wenn etwas falsch und nicht gut ist, dann ist es keine Liebe, zu schweigen und zu nicken, als wäre es richtig. Und ich habe nicht am Beginn einer jeden Schreibwerkstatt gesagt: »Wir werden jetzt unseren Teil zur Kultur und zur Kunst beitragen – das ist das, was uns vorgibt, grausam oder barmherzig zu sein, allein oder vereint, unwissend und verängstigt oder pausenlos lernend und mutig. Und das ist wichtig – immer – darum werden wir jetzt unser Herzblut vergießen und außergewöhnlich sein, denn alles andere, alles Unvollkommene, alles Egozentrische, alles Schwache und ›Konzeptuelle‹ verkleinert den Raum, den Kunst unter uns einnehmen kann, verschwendet die womöglich einzige Chance der Kunst, sich zu verbessern, zu erwachen, sogar Leben zu retten. Hier geht um Leben und Tod.«

Wenn uns Reality-Fernsehen gezeigt wurde, in dem die Menschlichkeit geschmälert wird, uns Artikel vorgelegt wurden, die auf eine Weise lügen, wie es sich keine Fiktion trauen würde, wenn Worte benutzt wurden, um sie ihrer Bedeutung zu berauben, oder wenn zynische Webseiten sich von Wut und Empörung nähren und dabei nur noch mehr davon erzeugen – dann habe ich nicht oft genug gesagt: Für so etwas darf es unter uns niemals einen Platz geben. Es ist nicht abgehoben oder elitär, das Beste für seine Mitmenschen zu wollen – es ist vielmehr eine Beleidigung, daneben zu stehen und zuzusehen, wie andere Menschen mit Exkrementen gefüttert werden, wie immer und immer und immer wieder gezeigt wird, wie tief der Mensch sinken kann. Es kann nicht sein, dass nur Autos und Elektrogeräte uns zu besseren Menschen machen. Es muss so sein, dass unsere Theaterstücke, unsere Romane, Lieder, Fotografien, Gemälde, Zeichnungen, Gedichte, Ballette, Opern und alle anderen Kunstwerke außergewöhnlich, vielfältig, unerwartet und lebendig sind. Wenn wir kein Geld haben, dann haben wir eben kein Geld – Kunst kann billig sein, ohne dass sie deshalb schlecht, giftig, hasserfüllt sein muss. Das ist eine notwenige und wichtige Wahrheit.

Und ich verdanke meine schriftstellerische Laufbahn, meine handwerkliche Zufriedenheit und jegliche Moral, die ich überhaupt für mich beanspruchen kann, der Kunst, dem Schreiben und – zum Beispiel – einer einzigen Szene in einem Stück, das mich in meiner Kindheit und seither mein ganzes Leben verfolgt. In diesem Stück steht ein Mann, der kein Folterer ist, aber schwach, in einer Folterkammer und bekommt eine Zange gereicht – da war das Folteropfer, da war der Folterer, da war die Zange, und da war das unausgesprochene Einverständnis, dass der schwache Mensch, wenn er nicht folterte, selbst gefoltert werden würde, und es gab eine Pause. Dieses Drama des deutschen Drehbuchautors Lukas Heller, geboren in Kiel im Jahr 1930, fragte mich und fragt mich immer noch: Und was würdest du tun? Wie schwach bist du? Wie kannst du deine Schwäche und deinen Wunsch nach Selbsterhaltung am Besten kontrollieren – wie kannst du dein Versagen am besten vermeiden, dich und andere am Besten schützen?

Und dieses Wie ist es, was die Kunst uns erklärt – neben allem anderen, was sie uns zeigt und erzählt. Dabei muss ich an Verse aus einem Gedicht von Heine denken – Allnächtlich im Traume – das groß genug ist, mehr als nur eine Art von Liebe zu verhandeln …

Du sagst mir heimlich ein leises Wort, 
Und gibst mir den Strauß von Zypressen. 
Ich wache auf, und der Strauß ist fort, 
Und das Wort hab ich vergessen. 

Als Autoren und Künstler halten wir die Zypressen fest, die uns daran erinnern, dass wir alle sterben, und dass wir barmherzig sein sollen, und dass wir den Träumen dienen, die zu uns kommen, um ausgedrückt zu werden. Wir geben ihnen Worte, wir ermöglichen ihnen, sich mit den größeren Träumen zu vereinen, die andere für uns schaffen, mit den Träumen, die unsere Kultur ausmachen. Unsere Kultur schafft die Realität, in der wir leben. Als Künstlerinnen, als Autorinnen werden wir dafür bezahlt, diesen Traum am Leben zu halten, und das ist sehr schön für uns. Als Menschen jedoch, und das ist viel wichtiger, haben wir die Pflicht, diese heimlichen Worte nie zu vergessen, die wir im Dunkeln hören, und einander vor dem Schlimmsten zu bewahren, was wir sein können, vor der schlimmsten Welt, die wir schaffen können – und es besser zu machen. Und das können wir lieben, und wir können es lautstark lieben. Ich möchte Heine und dem Heine-Preis danken, dass ich Teil von dem sein kann, was ich liebe.

Übersetzt von Ingo Herzke Die Rede wurde von A.L. Kennedy anlässlich der Verleihung des Heinrich-Heine-Preises am 11. Dezember 2016 in Düsseldorf gehalten

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