(Die) Migranten
Eröffnungsvortrag der Europäischen Literaturtage 2015, Schloss Spitz, 23.10.2015Als ich die erste Fassung dieses Vortrags schrieb, hätte man meine Argumentation so zusammenfassen können: Wo die Kunst versagt, gibt es Unmenschlichkeit, denn menschliche Grausamkeit erwächst aus Mangel an Vorstellungskraft. Es gibt nicht genug derart kranke Menschen, dass sie als Einzelne Grausamkeit in epidemischem Ausmaß verbreiten könnten. Sie können Schaden anrichten, natürlich. Aber um großen Schaden anzurichten, müssen grausame Gesellschaften, Kulturen der Unmenschlichkeit geschaffen werden – entweder zufällig oder vorsätzlich, meist beides – die dann eigentlich ganz normale Menschen dazu bringen können, grausam zu sein, obwohl sie das unter anderen Umständen nicht wären.
Kurz gesagt: Wenn die Kunst versagt, folgt das Versagen der Vorstellungskraft, worauf Unmenschlichkeit gedeihen kann.
Wer nun Kunst ausübt, könnte dem entgegen halten, er oder sie werde von den Unmenschlichen unterdrückt, die nach ihrer Logik ganz folgerichtig verhindern wollen, dass die positive Wirkung der Kunst sich in der Gesellschaft ausbreiten kann. Das stimmt.
Doch ebenso richtig ist, dass erst ein Versagen der Kunst und der Künstler den Unmenschlichen unter uns zum Triumph verhilft, worauf sie dann uns alle unterdrücken können, selbst in relativ freien Gesellschaften, und eben auch – vielleicht sogar zuallererst – die Kommunikatoren.
Mein heutiger Vortrag wird sich immer noch mit diesem Thema beschäftigen. Doch zwischen meinem ersten Entwurf und dem letzten hat es ein toter kleiner Junge in die Schlagzeilen vieler Zeitungen geschafft, die noch wenige Stunden zuvor alle Flüchtlinge hasserfüllt als moralische, kulturelle, biologische und spirituelle Bedrohung dargestellt hatten. Oder, wie David Cameron es ausdrückte: »Ein Menschenschwarm.«
Wenn Menschen im Schwarm auftreten, sind sie keine Menschen mehr. Sie sind zugleich fremdartig und gefährlich.
Werden sie mit Wörtern zu einem Schwarm gemacht, wird ihnen real nicht geholfen. Hier war nun das Bild eines Jungen, der wie viele andere europäische Jungen aussah. Jungen mögen Strände und Sand und Meer – nur lag dieser westlich gekleidete kleine Junge tot auf dem Gesicht. Er wirkte zugleich vertraut – ein ruhender Jungenkörper – und furchtbar verändert: ein lebloser Körper mit dem Gesicht nach unten, aufgenommen zu einem Zeitpunkt, da er hilflos wieder zu reiner Materie geworden war. Wir konnten ihn uns leicht als menschlich und lebendig vorstellen, nicht als Schwarmtier. Er bekam einen Namen – Aylan Kurdi – und hörte auf, Teil eines Schwarms zu sein. Die anderen von seinem Boot, die ebenfalls ertranken – darunter auch sein Bruder – wurden etwas weniger als Schwarm betrachtet. Auch seine Eltern bekamen Namen und gehörten nicht mehr zum Schwarm. Sie wurden als Menschen gesehen. Man konnte sie als menschlich im Kopf haben. Die Öffentlichkeit kann sich kleine Kinder und Strände vorstellen, kleine Körper im Arm, die Glieder schwer von Müdigkeit, nicht vom Tod. Diese Vorstellungskraft tendierte nun dazu, die Leute in den elenden Lagern bei Calais, die gelegentlich beim Versuch der Einreise nach Großbritannien zerquetscht wurden oder ertranken oder erstickten, als Menschen zu sehen, die vielleicht auch einmal spielende Kinder waren und nicht unbedingt von Geburt an eine existenzielle Bedrohung.
Vielleicht haben unsere Medien diesen veränderten Tonfall zugelassen, weil die Öffentlichkeit angewidert war von der zunehmend abstoßenden Berichterstattung, den Online-Petitionen und dergleichen. Vielleicht auch nicht. Vielleicht haben die britische und andere westeuropäische Regierungen – nachdem es ihnen nicht gelungen war, die selbst mit verursachte humanitäre Katastrophe wegzuwünschen und ihre Opfer hinter einer Nebelwand mehr oder weniger rassistischer Beleidigungen zu verbergen – einfach beschlossen, den Kurs zu ändern. Wenn so viele Länder so viele Waffen zu verkaufen haben, könnte uns das doch vielleicht überzeugen, dass es klug ist, noch mehr Krieg nach Syrien zu tragen, damit die Leute in Syrien nicht mehr vor dem Krieg fliehen müssen und ganz nebenbei einige Waffenfabrikanten viel Geld verdienen können. Vielleicht könnte ein totes kleines Kind uns tatsächlich dazu bringen, dass wir andere kleine Kinder in die Luft jagen wollen, deren Namen wir nie erfahren und die wir nie zu Gesicht bekommen würden, und die dann klein und tot auf dem Gesicht lägen. Wenn wir unsere Fantasie auf lautstark vertretene und kraftvolle (wenn auch eher nebulöse) Lösungen richteten und weniger auf in Stücke gerissene oder brennende Kinder, oder wenn wir uns vorstellen könnten, dass andere, noch lebende Kinder eines Tages an ihren eigenen Stränden, in ihrer Heimat spielen – oder jedenfalls fröhlich im Sand (Moslemkinder spielen doch gern im Sand, oder, haben wir das nicht irgendwo gehört …?), dann könnte sich Geld verdienen lassen. Wir könnten uns vorstellen, dass Menschen (vielleicht sogar Kinder) uns dafür danken, dass wir ein paar der Leute in die Luft jagen, die vorher sie in die Luft gejagt haben, und zwar so, dass am Ende alles gut wird. Sie werden solche Fantasiebilder noch aus dem Vorlauf des letzten Irakkrieges kennen.
In Großbritannien ruft man gern Bilder des Zweiten Weltkriegs wach. Auch wenn unsere Beteiligung an zeitgenössischen Konflikten weniger erfolgreich verlief und auch nicht vom unbedingten Wunsch getragen wurde, Grausamkeiten mit minimalem Einsatz eigener Grausamkeit zu beenden. Im Zweiten Weltkrieg rang man immerhin noch mit der Frage, wie man gegen undemokratische Gegner und den totalen Krieg kämpfen könne, ohne selbst undemokratisch zu werden und totalen Krieg zu führen. Es wurde sogar Blut vergossen, um künstlerisches und kulturelles Erbe zu bewahren, wo es möglich war. Und die Führung konnte sich vorstellen, dass ein Krieg in erster Linie militärisch erfolgreich und nicht profitabel sein soll. Diese Aspekte sind uns heute verloren gegangen, doch wir glauben, wir könnten sie mithilfe von Flaggen und Paraden und dem ständig wiederholten Begriff HELDEN erneut beschwören.
Während ich dies also schreibe, ist der Schwarm nicht mehr ganz so schwarmartig wie zuvor. Die Öffentlichkeit darf ihn als ein notwendiges Übel imaginieren, das uns zwingen könnte, ein anderes notwendiges Übel zu entfesseln, oder das – im Idealfall – Russland dazu bringen könnte, sich in das Übel hineinziehen zu lassen, so dass wir mit möglichst sauberen Händen am Rand stehen bleiben dürfen. Der in der Luft liegende Hass auf das Andere hat den Fokus gewechselt. Die Medien um uns herum (die mit immer mehr Misstrauen und Nichtbeachtung leben müssen und daher immer schriller und giftiger klingen) sorgen sich ein bisschen um die Abgaswerte bei VW, ein bisschen mehr um David Beckhams Ehe und sehr viel mehr um diese eigenartig beigefarbene und sanfte Bedrohung namens Jeremy Corbyn – ein Kandidat, den die Medien nicht unterstützt haben und dessen Existenz sie daher verblüfft. Die massive Vertreibung von Menschen aus ihrer Heimat in Europa und im Nahen Osten wird selten tiefgehender untersucht. Dass die Flüchtlinge und Auswanderer Menschen sind – wie übrigens auch David Beckham und Jeremy Corbyn – und dass wir ihnen menschlich begegnen sollten: diese Haltung wird weder gefördert noch gefordert, sondern eher geschwächt.
Offenbar versagt auf allen Seiten die Vorstellungskraft. Und wenn sie versagt, lässt sie uns alle im Stich. Was sollen wir Künstler jetzt tun? Denn natürlich müssen wir irgendwie reagieren – wir müssen die Wächter der Fantasie, des Denkens und Nachdenkens, der Kultur sein. Was haben wir falsch gemacht? Was haben wir vergessen? Was können wir besser machen?
Wahre Kunst ist kein Luxus, sondern fundamentale Verteidigung der Menschheit. Wir sind anscheinend dazu verdammt, diese Wahrheit zu vergessen, neu zu lernen und wieder zu vergessen. Und jedes Mal, wenn wir sie vergessen, sterben einige von uns. Zuerst diejenigen, die wir als die Anderen definieren. Die Fremden, die Migranten, die vom Strudel der Grausamkeiten in Bewegung Gesetzten: wir ignorieren sie zu Tode, wir quälen sie, damit sie unsere Vorurteile bestätigen. Herrschende Regime überall auf der Welt können ganze Familien per Fernbedienung auslöschen. Doch all diese Menschen – die Versehrten, die Fliehenden und die Toten – sind wir. Andere zu verletzen fällt auf uns selbst zurück. Moralisch, künstlerisch, umweltpolitisch, buchstäblich – wenn wir diese Tatsache ignorieren, schließen wir einen Mord-Selbstmord-Pakt mit uns selbst. Betrachten wir den kreativen Menschen als eine Art ewigen freiwilligen Migranten aus den fernen Gegenden des engagierten Geistes, der größeren Vorstellungskraft. Was nützt das in diesen finsteren Zeiten? Wie retten wir Leben? Wie sichern wir Leben? Wollen das Künstler überhaupt?
Ich würde behaupten, jeder Mensch, der auf hohem technischem und schöpferischem Niveau künstlerisch tätig ist, verteidigt Menschenleben. Kunst bewirkt von Natur aus Gutes, es sei denn, sie folgt einer bösartigen Absicht – und dann wird diese Absicht meist auch die Kunst kompromittieren. Weil »funktionierende« Kunst sich um die Unersetzlichkeit menschlicher Erfahrung dreht, trägt sie zu unser aller Rettung bei. Aber wahrscheinlich reicht es in diesen Zeiten nicht mehr, nur unsere Kunst auszuüben. Überall auf der Welt – sogar in den Ländern, die sich selbst als Hort der Demokratie und freien Meinungsäußerung betrachten – sind künstlerische Ausdrucksformen auf dem Rückzug, und Unmenschlichkeit nimmt offenbar auf allen Ebenen zu. Das ist eine zum Teil falsche Wahrnehmung, produziert von einer nach Schock und Täuschung süchtigen Medienindustrie, aber gewiss erzeugen auch weltweite Konflikte, Pandemien, erzwungene Armut und Schulden vorhersehbare Wirkungen – Verzweiflung, Wut, Tod, Gewalt, intellektuelle Kämpfe, Verwirrung, Nihilismus.
Als Schriftstellerin habe ich mich – vielleicht zu sehr – an die Rolle der moralischen Instanz gewöhnt, die angeblich klarsichtig weise Worte zum Wohl unserer Gesellschaften und unserer Art findet. Kraftvolles und kluges Schreiben kann natürlich sehr viel Gutes bewirken. Es kann neue Vorstellungen, bessere Zukunftsaussichten, sogar rechtliche Veränderungen anregen. Und neue Technologien verbinden die Wohlgesonnenen der ganzen Welt wie nie zuvor. Wir sehen die Mühen und Schmerzen des anderen schneller als je zuvor. Wir können alte und fehlerhafte Modelle des Journalismus überwinden. Wir können bis an die Grenzen unserer Fähigkeiten schreiben, um uns gegenseitig die Tiefe unserer Schönheit, das unersetzliche Geschenk unseres Lebens zu zeigen. Aber vielleicht ist das nicht genug. Vielleicht müssen wir noch mehr tun.
Ich glaube, wir müssen unser ganzes Potenzial als Künstler wiederentdecken oder neu bestimmen, unsere Rolle beim Schaffen und Formen von Kultur, unsere Schuld gegenüber den Gesellschaften und Kulturen, die uns immer noch Obdach geben, die uns eine überdurchschnittlich laute Stimme gestatten.
Die Massenkultur in Europa und dem Rest der Welt wird immer abhängiger von Wohlstand und Verachtung und deren ständiger Priorisierung und Propagierung. Schäbige, würdelose und entwürdigende Propaganda überwältigt uns durch ihre schiere, zermürbende globale Allgegenwart und unablässige Wiederholung. Und doch gelingt es uns seit Generationen, die Vorboten katastrophaler Gewalt innerhalb menschlicher Gesellschaften, Gewalt gegen Gruppen oder Individuen, zu erkennen. Wir wissen, dass strenge Zensur und Unterdrückung humanisierender Kunst, Kontrolle offensichtlicher Vergnügungen, Rationierung gemeinsamer Freuden, dass all dies den Beginn eines Prozesses markiert, der in der Hölle endet.
Die Unterdrückung und Einschränkung des künstlerischen Ausdrucks von Individuen und Gruppen, die als »Andere« klassifiziert werden, verbindet sich mit und ergänzt die Angriffe der Massenmedien auf diese Gruppen. Wirkliche Migranten – nicht wir freiwilligen Außenseiter – sind leichte Opfer. In Großbritannien wirft man denjenigen, die infolge unserer Wirtschafts- und Kriegspolitik ihre Heimat verloren haben, nun ihre Heimatlosigkeit vor. Um einen Satz von Colin Powell abzuwandeln: Wir haben es kaputtgemacht, aber wir wollen es nicht wieder heil machen. In vielen Gesellschaften ist die einzige Reaktion auf Schmerz und Trauer die Verurteilung der Opfer. Die sommerlichen Schlagzeilen in Großbritannien beschrieben die Ereignisse, bei denen vollkommen verzweifelte Menschen den Ärmelkanal zu durchschwimmen versuchten, vor allem als Qual für die aufgehaltenen britischen Urlauber. Anrufsendungen im Radio bliesen die Bedrohung durch einige hundert illegale Einwanderern künstlich zu einer Horde auf, die unsere Kultur zu überrennen drohte. Und dieselbe Gesellschaft hat jahrzehntelang die Künste aus allen Diskursen und aus jeglicher Förderung ausgeschlossen, hat Verachtung und Abscheu gefördert. Theresa May, Großbritanniens umstrittene Innenministerin, alarmierte den Unternehmerverband und verblüffte die Regierungskommission zur Migration, als sie bei ihrer Rede vor dem Parteitag der Konservativen im Oktober die positive Wirkungen der Zuwanderung leugnete und zahlreiche schlicht unwahre Behauptungen über Einwanderer wiederholte, die angeblich Arbeitsplätze wegnehmen und das Gesundheitssystem verstopfen. Damit hofft sie, unsere Fantasie in einen Angstzustand zu treiben, aus dem sie uns dann erretten kann.
Doch die Geschichte lehrt uns, dass unsere größten Untaten, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord, in einer kulturellen Umgebung geschehen sind, in denen Hass zu einem festen Bestandteil des Lebens aller Bürger geworden ist und mit jedem Atemzug eingesogen wird. Wenn eine Kultur versagt, versagt eine Gesellschaft, versagt eine Nation; vielleicht kommen später Anwälte, vielleicht wird versucht, Wahrheit, Schuld, Versöhnung zu finden. Oft ist es ungeheuer schwierig, wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Genozids angeklagten Personen die so genannte »Zerstörungsabsicht« nachzuweisen, denn verschiedenste politische Äußerungen, Medienaktivitäten, Propaganda formen und dominieren schließlich solche kranken Kulturen. In einer hasserfüllten Gesellschaft basiert das Selbstbewusstsein einer Nation irgendwann darauf, wen sie verachtet. Aufenthaltsrecht und tatsächliche Staatsbürgerschaft werden immer enger gefasst und schärfer begrenzt – außerhalb dieser Sicherheitszone pirscht sich der Tod immer näher heran.
Natürlich müssen alle Beteiligten, darunter auch Schriftsteller und Künstler in Großbritannien und anderswo aktiv werden. Und wir versuchen uns zu organisieren, den Glauben an uns selbst als Art wiederzuentdecken, als Arbeiter am Überleben dieser Art. Doch ein ganzes Bündel neuer negativer Kräfte setzt uns dabei unter Druck. Wir wissen, rund um die Welt wird die Pressefreiheit eingeengt. Die Angriffe können mündlich, körperlich, juristisch, wirtschaftlich, unterschwellig oder offen erfolgen. Die Wirkung ist immer abschreckend und knebelnd. Selbst in relativ »freien« Ländern führen verminderte Honorare, der Zusammenbruch der Printmedien, die Forderungen nach kostenlosen Inhalten und die vergiftende Wirkung des so genannten »Kriegs gegen den Terror« dazu, dass Autoren zensiert werden oder sich selbst zensieren. Manche bringt auch die schiere Erschöpfung zum Schweigen. Aber ich betone noch einmal, ohne Künstler und insbesondere ohne Schriftsteller sind Menschen leichter zu zerstören, zuerst in effigie, dann stückweise, dann als Ganzes. Gruppen und Individuen vertrauen ihre Unsterblichkeit ihren kulturellen Konstrukten an – nimmt man ihnen den Zugang zu ihrer Würde, ihrem Ort in der Welt, lassen sie sich leichter vernichten. Wir »Anderen ehrenhalber«, wir selbstgewählten Außenseiter, müssen nun reagieren wie noch nie zuvor – nicht zuletzt, weil die Bedrohung einer Gruppe in Wirklichkeit eine Bedrohung für uns alle ist.
Echte Migranten gehören zu einer wachsenden Zahl von schrill definierten »Anderen«. Weltweit erleben wir die Verschlechterung oder den Entzug der Rechte von Frauen, Arbeitern, Behinderten, psychisch Kranken, Armen und Inhaftierten. Kostspielige Informationsquellen wie investigativer Journalismus sind mehr oder weniger versiegt. Klatsch und Krawall verstopfen die öffentlichen Meinungskanäle, und in diesem Meer aus Krach bilden Internet-Communitys Korallenriffe vereinzelter, ausgrenzender Mythenbildung und gegenseitiger Bestätigung. Immer schärfere neue Grenzziehungen auf den Feldern Loyalität und Identität führen zu Konflikten zwischen staatlichen und unternehmerischen Einheiten. Medienkonzerne verdammen die Nationalismen alter Schule, die Verachtung und Ausschluss zum Ziel haben, doch sie borgen sich dabei deren Argumente und Agenden aus. Gleichzeitig kann Nationalismus als Ausdruck nicht markengebundener Identität, als kulturelle Entscheidung und als persönliches Unterscheidungsmerkmal eine Möglichkeit bieten, Bürgerrechte zurückzuerlangen und das kulturelle Leben zu fördern.
Was derzeit in Schottland kulturell und politisch geschieht, entstammt einem kulturellen Aufschwung der 1980er und 1990er Jahre und bietet ein positives Beispiel für eine alternative und anspruchsvolle Bewegung, die gewaltfrei Veränderungen herbeiführt. Interessante Ausprägungen des Multikulturalismus liegen diesem Projekt am Herzen, erfrischend für jemanden wie mich, die an die alten konfessionellen Bruchlinien gewöhnt ist, welche auf Jahrhunderte alten religiösen und politischen Differenzen beruhen. Man versucht, das Konzept nationaler Identität auf die schlichte selbst gewählte Einwohnerschaft zu erweitern, und das hat Schottlands Selbstbewusstsein nicht geschadet, ganz im Gegenteil. Auch London ist eine bemerkenswert erfolgreiche Mixtur aus zahlreichen Kulturen, was die Stadt so erstaunlich widerstandsfähig macht. Es gibt viele Beispiele kultureller Einheiten voller innerer Differenzen, die dennoch gut funktionieren. Eine globale kulturelle Landschaft, in der man mit den Ungenauigkeiten von »Zero Dark Thirty« Folter rechtfertigen kann oder online Hinrichtungen in verschiedenfarbigen Overalls betrachten oder unter »Merkelstreichelt« zuschauen kann, wie die deutsche Kanzlerin hilfloses Mitgefühl anbietet, hat jedes positive Beispiel dringend nötig.
Um wieder einen Blick nach Großbritannien zu werfen: Menschen in Glasgower Arbeitervierteln kämpfen darum, Immigrantenfamilie in ihrer Mitte vor willkürlicher Abschiebung zu bewahren, gleichzeitig faseln unsere Medien mit Schaum vorm Mund über »hart arbeitende Menschen« einerseits und »Schmarotzer« andererseits, über die 9 unaufhörliche Bedrohung durch Fremde. Eine Regierung, die von grauenhaften SexSkandalen heimgesucht wird und deren Sozial- und Wirtschaftspolitik am ehesten zu einer Besatzungsmacht passen würde, versucht uns von den Wunden abzulenken, die sie selbst uns schlägt, indem sie den »Anderen« die Schuld dafür in die Schuhe schiebt. Unser neues Pressekontrollgremium, die Independent Press Standards Organisation, eingerichtet nach der Aufdeckung der Telefonabhörskandale bei Murdoch-Zeitungen, kann momentan (allerdings klein gedruckte) Entschuldigungen und Richtigstellungen einfordern, falls die Fakten falsch wiedergegeben wurden. Die meisten Attacken sind jedoch vollkommen faktenfreie Wutausbrüche. In den letzten beiden Jahrzehnten haben die britischen Massenmedien Migranten wiederholt mit der Verbreitung von Krankheiten und allen möglichen Straftaten in Verbindung gebracht. Seid Ra’ad al Hussein, UN-Hochkommissar für Menschenrechte, stellte vor kurzem fest, Europa habe eine »hässliche Schattenseite des Rassismus«, die unsere Reaktion auf echte menschliche Not verzerrt. Er bezog sich dabei dezidiert auf Großbritannien und unsere selbsternannte Gesellschaftskommentatorin Katie Hopkins. Wie zahlreiche ähnliche Gestalten versucht auch Hopkins, Empörung zu erzeugen, um Aufmerksamkeit und Klicks auf Webseiten zu generieren. Sie hat eine militärische Ausbildung, hat als PRBeraterin gearbeitet und wurde als Teilnehmerin einer Reality-Show im britischen Fernsehen bekannt. In vielen arglosen und schwächelnden Demokratien ist das der direkteste Weg zu Prominenz und Posten. Recherche, Fakten, Qualitätsjournalismus – das erfordert Geld, Anstrengung, Fähigkeiten. Leichter ist es, die Vorurteile der Leser zu bestätigen. Umfragen in Großbritannien zeigen, dass die Befragten die Zahlen von Sozialhilfebetrügern und eingewanderten »Anderen« massiv überschätzen – diesen Irrtum haben im Grunde die Massenmedien fabriziert. Es ist ein Albtraum ausländischer Gier, erschaffen durch die Fantasie der Massenmedien. Al Hussein wies auf Hopkins Beschreibung von Migranten hin, die »sich ausbreiten wie der Norovirus auf einem Kreuzfahrtschiff«. Sie bezeichnete sie als »Kakerlaken« – die gleiche Wortwahl wie beim ruandischen Hassradio Mille Collines, das die Hutu-Mehrheit mit solchen Parolen zum Genozid aufforderte.
Wenn der Hass weltweit kommerzialisiert wird, ist es kein Wunder, dass der Handel mit Menschen als Ware, als Sklaven – wie der Krieg – ein wachsender Wirtschaftszweig ist. Der Umsatz beträgt weltweit etwa 150 Milliarden Dollar. (Sklaven werden, wie Rohöl, in Dollar bewertet). Dieses Geschäft betrifft mehr als 20 Millionen Menschen. Nicht Kakerlaken. Menschen.
Und neben der Bestrafung von Migranten entzieht die britische Regierung auch zahlreichen hilfsbedürftigen Bevölkerungsgruppen die Unterstützung: Behinderten und psychisch Kranken, Obdachlosen, Armen, Alten, Jungen, Patienten … Wir alle sind vom einen oder anderen Aspekt dieser Grausamkeit betroffen. Eine institutionell rassistische Polizei, ein unterfinanziertes Rechtssystem und eine Gefängnisindustrie, die Rückfälle und Profite zu vermehren sucht, verschleiern einige der Folgen. Wie in so vielen welkenden Demokratien sind für Gnadenakte nur noch Gruppen oder Individuen zuständig, die andere Werte verinnerlicht haben als die zunehmend tonangebenden.
Doch in einer Welt, in der es Avaaz und freiwillige Hilfsdienste und BenefizCrowdfunding gibt, in der 15 Millionen Menschen im Interesse fremder Menschen, weil die es selbst nicht konnten, gegen den Krieg im Irak demonstriert haben, gibt es schon noch alternative Modelle für die Menschheit. Als Schriftsteller und Künstler haben wir erlebt, dass Kunst stärker ist als Propaganda, dass Liebe stärker und nachhaltiger wirkt als Hass, dass Selbst-Darstellung und Selbstentfaltung mehr sein kann als Zügellosigkeit. Wir haben Werte. Diese dunklen Zeiten können uns einiges über das Licht lehren. Wir sind in der Lage, eine riesige Bandbreite und Tiefe menschlicher Informationen darzustellen. Wir können Träume schaffen, um die Menschheit voranzubringen, und Ausdrucksformen der Individualität, die viele frei machen können. Ohne diese Träume haben wir nichts als Albträume vor uns. Wir müssen es besser machen.
Was ihr als Nächstes tun, schaffen, schreiben, produzieren wollt, liegt ganz bei euch – es muss eure Sache bleiben. Doch ohne euch sind wir alle rettungslos verloren. Wir wollen uns gemeinsam die Zukunft vorstellen – wenn wir das nicht tun, wird sie sich ohne uns ereignen und uns womöglich dabei umbringen.
Übersetzung aus dem Englischen: Ingo Herzke