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Europa – von der Vision zur Fata Morgana | Europa nach Corona

elit Literaturhaus Europa ladet europäische Autorinnen und Autoren dazu ein, diesen Blick unter dem Eindruck der Krise zu wagen.
Matthias Politycki
Europäische Literaturtage 2020 19.-22.11.
Klangraum Krems Minoritenkriche

Neben den Diskussionen über die aktuelle Krisenbewältigung rückt dabei langsam die Frage in das Blickfeld, wie Europa nach den Corona-Zeiten aussehen wird. Wie wird es um die europäische Integration stehen, wie um die Idee einer Solidargemeinschaft und die Vorstellung einer gemeinsamen Kultur?

Anfang der 90er, als es – der Eiserne Vorhang war gerade gefallen – in Europa nach Aufbruch und Zukunft roch und unsre Köpfe voller Visionen waren, beschloß ich mit meinem holländischen Freund Johan de Blank: daß wir an Tag X, da sich die Europäische Union in die Vereinigten Staaten von Europa verwandelt haben würde, gemeinsam zum Einwohnermeldeamt gehen und einen europäischen Paß beantragen wollten. Auf dessen bordeauxrotem Einband würde unter dem neuen Staatsnamen nichts Abgrenzendes mehr vermerkt sein wie „Bundesrepublik Deutschland“ oder „Koninkrijk der Nederlanden“.
Eine kleine symbolische Aktion, inspiriert durch das große Narrativ, das uns durch dieses goldne Jahrzehnt trug, das Narrativ vom vereinten Europa. Genau genommen, trug es mich bereits durch die Jahrzehnte zuvor. Meine Eltern, die den Zweiten Weltkrieg miterlebt hatten, erzogen mich bewußt als Europäer; was die Gründerväter der EU tatsächlich gefühlt hatten, die Sehnsucht nach einer Einigung Europas als einem Friedensprojekt, war auch für sie ein Herzenswunsch, den sie lebten und als ihr emotionales Vermächtnis an mich weitergaben.
Doch wir, die Nachgeborenen, haben es offensichtlich versäumt, dies emotionale Vermächtnis auch an die nachfolgenden Generationen zu übergeben. Unmerklich wurde die EU für ihre Bewohner zur Chiffre und für viele irgendwann sogar zum Ärgernis; den Ernst, der hinter ihrer Gründung stand, die Erfahrung von Gewalt und Leid, die Angst vor einem neuen Krieg, all das haben wir vergessen. Selbst die Eliten interessierten sich irgendwann nicht mehr für Europa. In eine echte Gemeinschaft mit anderen kommt man eben nicht durch allfälliges Postulieren hehrer Ziele und schon gar nicht durch sukzessive Bürokratisierung einer Idee, sondern durch eine gemeinsam gemachte Schlüsselerfahrung. Oft sind es Katastrophen; aber auch das Sommermärchen der WM 2006 war ein solches Gemeinschaftserlebnis, das noch lange nachwirkte – übrigens weit über die deutschen Grenzen hinaus. Hatte Europa ein solches Schlüsselerlebnis?
Es hatte einige veritable Krisen, die es am Ende sogar ganz gut bewältigte. Anscheinend war die Not jedoch nie groß genug, daß wir als Europäer wirklich eng hätten zusammenrücken müssen und schon aufgrund schierer Nähe in ein echtes, ein gefühltes Wir hineinwachsen können. Die Flüchtlingskrise der Jahre 2015ff. entzweite uns eher als daß sie uns vereinte, nicht zuletzt durch das eigenmächtige Vorpreschen Deutschlands. Großbritannien war das erste Land, das die Konsequenzen zog und sich per Referendum von der Europäischen Idee verabschiedete; Analysen der Wählerbewegung zeigen, daß die „Leave“-Kampagne mit der Botschaft „We must break free of the EU and take back control of our borders“, auf die sie sich während der letzten Tage vor der Abstimmung konzentrierte, die entscheidenden zwei Prozentpunkte holen konnte.
Eine gewaltige Erschütterung der europäischen Grundfesten, die bis heute nachhallt. Dem gemeinsamen Narrativ, das die vielen verschiedenen Narrative unsrer „Vaterländer“ auf einer höheren Ebene immer wieder aufs Neue miteinander verbinden und im Lauf der Zeit immer enger miteinander verflechten müßte, ist damit ein zentrales Stück verlorengegangen, die (scheinbar) greifbar nahe Vision von einst zu einer Utopie in weiter Ferne diffundiert. Vielleicht haben wir ja nur vergessen, daß auch etwas derart Großartiges wie die europäische Idee nur dann die Herzen höher schlagen läßt, wenn es großartig erzählt wird: mit Liebe, Pathos, Leidenschaft, zumindest immer mal wieder. So ist die Idee blaß und fadenscheinig geworden, sie hat keine Aura mehr und schon gar keine Strahlkraft.
Andre Narrative waren stärker und sind es bis heute – Globalisierung, Migration, Klimakrise, Weltende. Davon geprägt, laufen die Visionen der jüngsten Generationen darauf hinaus, so wird es in Umfragen jedenfalls immer wieder dokumentiert, daß es allen Menschen gut gehe. Wer würde das nicht wünschen? Es heißt aber auch: An die Stelle einer europäischen Vision ist für sie diejenige der Weltrettung getreten. Jede junge Generation erweist sich in ihrer spezifischen Radikalität als moralisch integer; und immer reagieren die Älteren mit Güterabwägung, in diesem Fall mit der Frage: Wo fangen wir freilich am besten an, uns als moralische Wesen für eine bessere Welt einzusetzen? Sollten wir nicht auch den mühevollen Prozeß im Inneren der EU befördern, die verschiedenen europäischen Kulturen wieder enger miteinander in ein und demselben europäischen Geist (der Aufklärung, des Humanismus, der Menschenrechte) zu verweben? Europa, noch dazu in dem kritischen Zustand, in dem es sich derzeit befindet, für alle zu öffnen, die sich hier ein besseres Leben erhoffen, ist groß gefühlt und erstaunlich naiv gedacht. Es hieße nichts anderes als: daß ein Großteil der europäischen Partnerländer dazu nicht bereit sein und sich von der EU ähnlich lossagen würde, wie es Großbritannien bereits getan hat.
Die europäische Idee ist schon lange erodiert; jetzt hat ihr Corona erneut tüchtig zugesetzt. Nicht etwa, weil alle Staaten, auch die Mitglieder der EU, vorübergehend ihre Grenzen geschlossen haben – Social Distancing auf Staatsebene. Das hat immerhin jedem klargemacht, daß grenzenlose Reisefreiheit in Europa keine Selbstverständlichkeit ist, kein Grundrecht, für das wir demonstrieren und auf das wir pochen könnten. Die europäische Idee hat erneut verloren, weil die EU zum Zuschauer wurde, während sich Länder- und sogar Bundesländer-Fürsten, jeder sich selbst der nächste, zu den großen Gestaltern der Krise aufschwangen. In der Forsa-Umfrage von Mitte Mai ist dokumentiert, daß in Deutschland sämtliche politischen Institutionen während der zweimonatigen Ausgangsbeschränkung an Zustimmung gewinnen konnten, Bundeskanzlerin, Ministerpräsidenten, Bürgermeister – bis auf eine einzige Institution: „Nur die Europäische Union hat verloren“, faßt DIE WELT am 16.5.2020 zusammen: „Sie büßt drei Prozentpunkte ein und kommt nur noch auf eine Zustimmung von 37 Prozent.“
Anscheinend hat uns Corona vor allem gezeigt, wie wenig die Mitglieder der EU auch in der nächsten Krise zusammenhalten und gemeinsam agieren würden. Was schon lange keine Vision mehr war, ist jetzt nicht mal mehr Utopie, sondern Fata Morgana. Für den Politikwissenschaftler Herfried Münkler kündigt sich bereits „eine Rückkehr zum Staat und zur Nation“ an (Der 8. Tag, Morning Briefing Podcast vom 15.5.2020). Innerhalb einer sich anbahnenden Weltunordnung scheint die Idee von Nation und Nationalstaat größere Sicherheit zu versprechen, einfach deshalb, weil Regierungen die Chance genutzt haben, sich als verantwortungsvolle Krisenmanager zu beweisen und auch zu inszenieren, Stichwort Liebe, Pathos, Leidenschaft, und weil die EU in ihrem staubtrocknen Bürokratenmodus genau das versäumt hat.
Hätte sie nicht versuchen sollen, den grassierenden Partikularismus der Nationalstaaten zu moderieren, zu koordinieren, eine Infrastruktur für multilaterale Absprachen bereitzustellen, die zumindest den Willen zum gemeinsamen Handeln spürbar gemacht hätte? Selbst als sich Merkel und Macron am 18.5.2020 zu einem 500-Milliarden-Euro-Konjunkturprogramm für Europa durchringen konnten, also ein für ihre Verhältnisse bemerkenswert einiges Bekenntnis zu Europa ablegten, kam nirgendwo Freude auf. Was muß eigentlich noch passieren, bis die Idee der EU wieder Emotionen erzeugt? Warten wir also auf die nächste Krise oder, viel lieber, auf ein nächstes Sommermärchen, das uns zu einem europäischen „Wir“ zusammenschweißt. Ich halte an der Vision der Vereinigten Staaten von Europa fest, auch wenn ich sie wahrscheinlich doch nicht mehr selber erleben werde. Und Johan de Blank, mein niederländischer Freund, tut es auch. Alles andere erschiene uns erbärmlich, fahrlässig, kurzsichtig, vollkommen indiskutabel.

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