Eine der vielen Erklärungsversuche für die gegenwärtige politische Kluft zwischen dem städtischen und ländlichen Leben lautet, das Dorf repräsentiere die Verlierer:innen der digitalen Modernisierung und räche sich mit Wissenschaftsskepsis, Irrationalismus und Demokratiefeindlichkeit an der global orientierten Großstadt. Spätestens seit Donald Trumps Präsidentschaft gilt das Dorf als Sinnbild einer reaktionären Revolte, die sich in Wahlergebnissen spiegelt. Etwa beobachtet der Soziologe Lukas Haffert, wie pulsierende Städte gutgebildete, gutverdienende und tolerante Menschen anziehen, und dieser optimistischen Elite eine Landbevölkerung gegenübersteht, die ihre Werte und ihren Besitzstand bedroht sieht und mit dem wirtschaftlichen und kulturellen Wandel unserer Gegenwart hadert. Für Haffert geht es um die Gewinner:innen und Verlierer:innen ökonomischer Modernisierungsprozesse, um die Gewinner:innen und die Verlierer:innen der digitalen Wissensökonomie, hiermit um die Folgen des Übergangs von der Industrie- zur Wissensgesellschaft. Stadt und Land entfremden sich. Seit der urbane Lifestyle dominiert, wähnt sich der Landmensch auch kulturell abgehängt. Die ländlichen wie die urbanen Milieus sind dabei zwei Seiten der Dynamik einer immer größer werdenden Polarisierung.
Ein Blick auf die Literaturgeschichte ruft in Erinnerung, dass seit den alttestamentarischen Versen über den Turmbau zu Babel Epen, Dramen, Gedichte und Romane von Auseinandersetzungen und Kriegen zwischen Stadt und Dorf berichten. Es sind nur neun Zeilen, die vom Turmbau zu Babel erzählen und die zum Gleichnis für die Folgen des Übermuts menschlicher Erfindungsgabe wurden, an das bis heute literarische Erzählungen anschließen. Ein Volk (aus dem Osten), so die biblische Erzählung, wollte eine Stadt und einen Turm mit einer Spitze bauen, der bis zum Himmel reicht. Gott fürchtete, dass damit für die Menschen nichts unerreichbar bleiben würde. Daher verwirrte er ihre Sprache und erzwangt den Abbruch der Arbeit am Turm, da sie sich nicht mehr untereinander verständigen können.
Die Romanliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts entwarf eine Kulturgeschichte des Stadtlebens wie des Landlebens, der Landflucht wie der Verstädterung, die mit der Industrialisierung einhergingen. Eine Geschichte der Unterdrückung wie der Öffnung, der Erneuerungen wie der Rückschritte, von Emanzipation, Niederwerfung wie von Flucht. Vor diesem Hintergrund stellen die Europäischen Literaturtage 2024 Bücher der Gegenwartsliteratur vor, in denen Stadt und Land, Fortschritt, Rückschritt, Konflikt wie Suche nach neuen Lebensformen eine zentrale Rolle spielen. Zerschnittene Welt ladet internationale Autor:innen und Philosoph:innen dazu ein, ihre Bücher vorzustellen und sich über Fragen des Stadt-Landkonfliktes sowie zukünftiger Lebens- und Miteinanderlebens-Formen auszutauschen.
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Wie jedes Jahr lädt der Think Tank der Europäischen Literaturtage ein interessiertes Publikum dazu ein, nach Krems an der Donau zu kommen und sich ein Wochenende lang mit Autor:innen und Denker:innen über ein Thema unserer Zeit auszutauschen. Für jene, die nicht nach Krems kommen können, werden die themenbezogenen Lesungen, Vorträge und Dialoge via Livestream auch von Ferne miterlebbar gemacht. Dazu kommen für alle in Krems Anwesenden Büchertalks, Performances und Konzerte im Klangraum Krems Minoritenkirche. Inspiration, Literaturgenuss und die Begegnung mit internationalen Gästen bilden das zentrale Anliegen und Angebot. In Kooperation mit kulturkrems verbindet Verborgenes und Erlesenes die Entdeckung von Kulturdenkmälern und Kulinarischem mit der Gelegenheit der Begegnung mit den anwesenden Autor:innen, und in Kooperation mit dem Festival Glatt&Verkehrt bietet Worte und Töne Literatur, Musik und Schauspielkunst auf höchstem Niveau. Den krönenden Abschluss bildet ein weiteres Mal die sonntägliche literarisch-musikalische Matinee zu Ehren des diesjährigen Preisträgers des Ehrenpreises des österreichischen Buchhandels für Toleranz im Denken und Handeln. In Kooperation mit den eljub Europäischen Jugendbegegnungen, dem Jugend Kulturraum Krems und dem Jugendreferat des Landes Niederösterreich findet zudem wieder ein reichhaltiges Lese- und Workshopprogramm in regionalen Schulen statt.